Meine Gedanken zum Buch mit diesem Titel von Gunter Kreutz
Von Daniela Schumacher

Schon immer war ich davon überzeugt, dass Singen gesund ist und Menschen glücklich macht, daher hat mich das Buch „Warum Singen glücklich macht“ natürlich angesprochen. Es wurde vor sechs Jahren das erste Mal veröffentlicht; nun ist es in einer Neuauflage erschienen, die über viele Angaben zu aktuellen wissenschaftlichen Studien verfügt. Es scheint, als wäre das Thema „Singen und Tanzen“ endlich in der Forschung angekommen, nachdem es viel zu lange vernachlässigt wurde.

Die vielen vom Autor vorgestellten spannenden Erkenntnisse bestärken mich in meiner Überzeugung, dass Singen gesundheitsfördernd ist und man auf keinen Fall — auch nicht in Zeiten von Krisen! – damit aufhören sollte. Im Vorwort spricht Gunter Kreutz von seiner Vision, dass aus „Singen auf Rezept“ eine realistische Vision werden könnte. Im folgenden Artikel möchte ich beschreiben, warum mir diese Vision gefällt und ich mithelfen möchte, sie umzusetzen. Ich beziehe mich dabei auf das Buch von Gunter Kreutz und ergänze die von ihm präsentierten Erkenntnisse mit meinen Erfahrungen als langjährige Sängerin, Gesangspädagogin und Chorleiterin. Das Buch „Warum Singen glücklich macht“ ist umfangreich und komplex, ich berichte hier über einige Aspekte, die mir besonders wichtig sind. Alle Zitate stammen aus dem Buch von Gunter Kreutz.

Schon in seinem Vorwort zur Neuauflage erwähnt der Autor aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, zum Beispiel: „Britische Forscher zeigten erstmalig eine Verknüpfung zwischen dem Singen und der Ausschüttung körpereigener Opiate – ähnlich wie bei dem aus der Sportwissenschaft bekannten Runner’s High. Völlig neue Perspektiven ergeben sich zudem aus Erkenntnissen über eine verbesserte Sprachwahrnehmung bei Menschen, die auf Hörgeräte angewiesen sind, nach nur wenigen Monaten regelmässigen angeleiteten Chorsingens.“

Gunter Kreutz hat zudem Hypothesen zum Glück des Singens verfasst, auf die ich mich nun beziehe. Er schreibt, seine Hypothesen seien Vermutungen, es gebe aber immer mehr Studien dazu, die auch wissenschaftlich belegten, dass Singen gesund sei und glücklich mache. Und neben den Studien gibt es Millionen singender Menschen auf der ganzen Welt, die mit Enthusiasmus und Begeisterung ihrem Hobby oder ihrem Beruf nachgehen und dadurch viele glückliche Momente erleben. Musik und Gesang hat die Menschen immer begleitet, inspiriert und verzaubert, in allen Kulturen und zu allen Zeiten.

Einige der Hypothesen von Gunter Kreutz

1.  Singen verbessert die Stimmung und steigert das allgemeine Wohlbefinden

Beim Singen und Lachen wird die fast gleiche Gesichtsmuskulatur beansprucht. „Studien zeigen, dass wir positiver über ansonsten neutrale Reize urteilen, wenn unsere Lachmuskeln aktiv sind.“ Muskelaktivitäten sind mit Emotionen eng verbunden und „sie können entsprechend auch für die Beeinflussung von Stimmungen durch Singen eine grosse Rolle spielen“. Wenn ich selbst Gesangsunterricht erteile, Singgruppen anleite oder mit meinem Vokalensemble einsinge, beziehe ich immer auch Bewegungen mit dem ganzen Körper in die Arbeit mit ein. Durch die Kombination Stimme – Bewegung wird die Arbeit an der Stimme fast automatisch effektiver. Zudem wird bei den Übungen auch gelacht, was für die Stimmung und das Wohlbefinden in der Gruppe positiv ist.

Beim Singen brauchen wir nicht nur eine tiefe Atmung, die für die Sauerstoffzufuhr und eine Verankerung im Körper zentral ist, sondern auch – wie beim Sport – viele Muskeln. Durch Singen wird unser Körper positiv konditioniert, denn er verbindet die tiefe Atmung und die körperliche Aktivität mit einem Wohlgefühl.

2. Singen entspannt und mindert körperlichen und psychischen Stress

In einer Studie von Grape und Kollegen (2003) untersuchten die Forscher die Herztätigkeit bei Singenden. Bei Profisänger*innen fanden sie im Vergleich zu Laien eine verbesserte Fitness des Herz- Kreislauf-Systems. Sie stellten fest, dass die verlangsamte Sing-Atmung einen beruhigenden Effekt auf die Pulsfrequenz hat. „Der italienische Kardiologe Luciano Bernardi und seine Mitarbeiter (2001) beobachteten stark ausgeprägte respiratorische Wirkungen beim Rezitieren von Rosenkranz-Gebeten sowie beim Singen von Mantras.“

Auch das Aktivieren des Vagusnervs kann entspannen und stimulieren. Der Vagusnerv ist ein wichtiger Strang des parasympathischen Nervensystems und verbindet das Gehirn mit Herz, Lunge, Magen und Darm. Er ist zudem mit den Stimmbändern und Muskeln im Rachen sowie mit dem Innenohr verbunden. Beim Summen (oder Singen) aktivieren wir diese Muskeln und stimulieren sie über die Schwingungen der gesungenen Töne. Das Singen kann eine belebende und befreiende Wirkung entfalten. Auch das beglückende Gefühl des Flows kann sich einstellen. Mit Flow wird ein Zustand völliger Vertiefung und Aufgehens in einer Tätigkeit bezeichnet.

3. Singen fördert die psychische und körperliche Gesundheit

Schon länger ist bekannt, dass Singen die Lebensqualität bei Menschen mit Demenzerkrankung oder Depression verbessern kann. Dazu gibt es viele Studien. Auch Personen mit Rückenschmerzen profitieren vom Singen, denn beim Singen mit der tiefen Atmung breitet sich der Atem wohlig in der Lunge, den Bronchien und dem Becken aus. Eine befreite (Sänger-)Atmung ist eine Wohltat für den Körper: Mit dem Gesang kommt unser Körper in Bewegung, und wir spüren seine Schwingungen und Vibrationen.

Viele Menschen arbeiten heute vor allem mit dem Kopf und haben dadurch die Tendenz, beim Einatmen nur die obere Muskulatur des Brustkorbs zu verwenden. Dadurch wird die natürliche Arbeit des Zwerchfells unterbunden. Durch diese Hochatmung können sich die Bronchien im unteren Teil der Lunge nicht vollständig leeren, und es bleibt immer etwas Restluft zurück. Dies kann zu einer unzureichenden Sauerstoffsättigung des Blutes und zu Atemwegskomplikationen führen. Die zwerchfellunterstützte Atmung dagegen führt zu einer dauerhaften Entspannung des Solarplexus.
Regelmässig aktiv singende Menschen leben länger und sind beweglicher in Körper und Geist.

Gunter Kreutz berichtet von Studien zur Lungenkrankheit COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung, engl. Chronic Obstructive Pulminatory Disorder). Bei dieser Krankheit leiden Menschen unter Husten, Atemnot und Verengung der Atemwege, die die Ausatmung erschwert. Von COPD sind immer mehr Menschen betroffen. Der Gesundheitswissenschaftler und leidenschaftliche Chorsänger Stephen Clift an der Universität in Kent (England) untersuchte in einer Studie (2013) die Auswirkungen des Singens auf COPD-Patient*innen. Viele positive Veränderungen wurden festgestellt, so zum Beispiel, dass die Lungenkapazität erhöht wurde und die Betroffenen körperliche Anstrengungen mit verbesserter Atemtechnik besser bewältigen konnten. Auch wurde festgestellt, dass sich die Lebensqualität signifikant verbesserte. Das Singen wurde von speziell ausgebildeten Singleitern angeleitet und fand während acht Monaten einmal wöchentlich statt.

Dass Singen mit der tiefen Atmung gesundheitsfördernd ist, wird zum Glück von immer mehr Menschen entdeckt. In der Schweizer Tageszeitung «Der Bund» vom 3.2.2021 war zu lesen: «Nach einer Covid-19-Erkrankung berichten viele Genesende über anhaltende Atemprobleme – ihnen wollen in Grossbritannien nun Opernsänger helfen. Die Profis lehren etwa Atemübungen und auch Schlaflieder zur Beruhigung.»

Eine gute Nachricht in diesen schwierigen Corona-Zeiten, in denen das Singen immer mehr stigmatisiert und sogar verboten wird.

4. Singen fördert ein positives Selbstbild und wirkt gegen psychosoziale Probleme

Beim Singen braucht es das Bewusstsein für die natürlichen Vorgänge des Körpers und das Wahrnehmen des fliessenden Atems. Die bewusste Atmung kann der Weg zu mehr Harmonie für Körper und Geist sein. Durch das Singen entdecken die Menschen ihre individuelle und vielleicht vergessene Singstimme, erfreuen sich am Klang derselben oder staunen über ihre stimmlichen Möglichkeiten. Und vielleicht entdecken sie auch ganz neue Fähigkeiten und Ressourcen in sich selbst. Singen braucht zwar Mut, wir werden dafür aber mit einem besseren Selbstwertgefühl belohnt und fühlen uns stärker.

Zwei Musikwissenschaftlerinnen (Bailey und Davidson, 2002) befassten sich mit der Frage, ob Obdachlosen gemeinsames Singen helfen könnte. Es war ein Glücksfall, dass sie mit dem Koch einer Suppenküche (in Kanada) einen engagierten Menschen trafen, der sich auch als Chorleiter betätigen konnte. Es war viel verlangt, „von obdachlosen Menschen zu erwarten, dass sie über einen längeren Zeitraum zu regelmässigen Proben erschienen, bis zu einer öffentlichen Konzertaufführung durchhalten“. Zum Glück hatten alle Beteiligten diesen Durchhaltewillen, und einigen Chorsängern „verhalf das Singen dazu, dass sie verlorene psychische Stabilität und Selbstsicherheit zurückgewinnen konnten“.

„Soziale Isolation betrifft nicht nur obdachlose Menschen, sondern auch betreuungs- und pflegebedürftige ältere und auch jüngere Menschen.“ Einige Studien weisen nach, dass „professionell angeleitete, regelmässige Singangebote die Lebenssituation für viele Betroffene positiv verändern können“. (Bailey und Davidson, 2002, 2005)

5. Singen fördert Gefühle sozialer Verbundenheit

Ob wir allein oder mit anderen in einem Chor oder einer Singgruppe singen, ist ein Unterschied. In einer weiteren vom Autor vorgestellten Studie wird Chorsingen mit Mannschaftssport verglichen, und es wird nach dem Wohlbefinden bei der Ausübung der Aktivität geforscht (Stewart und Londsdale 2016). „Es ist weder das Vergnügen am Singen oder am Sport noch der Glaube an individuelle Werte allein, die dazu führen, dass Menschen sich bei diesen Tätigkeiten in einer Gruppe besser fühlen, als wenn sie ihnen allein nachgehen.“ Menschen sind soziale Wesen. Sie können beim Singen wie beim Sport Wohlbefinden, Glück und Freude erleben. Gemeinsames Singen verbindet und stärkt die Menschen. Vor einem Jahr, am Anfang der Corona-Pandemie, gingen die Bilder der auf ihren Balkonen singenden italienischen Menschen durch das Netz. In den Aufnahmen waren unglaublich viel Sing-Power, Solidarität und auch Hoffnung spürbar.

Einige Stimmen aus meinem Vokalensemble:

„Ich liebe es, wenn ich (beim Chorsingen) diese Energie des Ganzen wahrnehmen kann und gleichermassen selbst Teil davon sein darf. Ich fühle mich aufgehoben und leiste meinen Beitrag für einen gemeinsam erlebten Moment. “
„Ich erinnere mich an viele Situationen, in denen Musik mich getröstet, mich unsäglich glücklich oder traurig gestimmt hat.“
„Beim Singen öffnet man sich vollumfänglich den Mitsängern gegenüber. Das ist eine grosse Zuwendung, die auf ein mitfühlendes Gegenüber zählt.“
„Das gemeinsame Singen gibt mir drei Dinge: Die Motivation, auch bei Müdigkeit oder Traurigkeit zu singen – weil ich nicht allein bin. Das schöne Gefühl, gemeinsam etwas gemacht und geschaffen zu haben. Und schlussendlich das musikalische Gesamterlebnis, das sich erst aus dem Miteinander der verschiedenen Stimmen ergeben kann.“
„Singen ermöglicht mir einen natürlichen Zugang zur Öffnung des eigenen Herzens und zu meiner spirituellen Quelle. In der Gruppe erlebe ich die Stille, die auf das gemeinsame Singen folgt, erfüllt von einer ungeheuren Intensität.“

Das (gemeinsame) Singen fördern

Ich wünsche mir, dass die Kraft des Singens von immer mehr Menschen entdeckt wird. Schon heute gibt es Krankenkassen, die bestimmte Kurse zur Prävention und Gesundheitsförderung finanziell unterstützen. Das Singen ist aber leider noch nicht dabei. Auch Verantwortliche in Spitälern, Altersheimen, psychiatrischen Kliniken und anderen Institutionen könnten das Potential des Singens mehr entdecken und es aktiver fördern. Zwar existieren in vielen Institutionen schon heute musikalische Angebote, aber es gibt einen grossen Unterschied zwischen passiver Beschallung oder aktiver Beteiligung an musikalischen Aktivitäten. Der italienische Gerontologe Giulio Lancioni untersuchte diese Wirkung bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz. „Selbst wenn der Rahmen verbliebener Fähigkeiten auf das An- und Abstellen von Musikgeräten beschränkt ist, kann dies einen deutlichen Unterschied machen etwa hinsichtlich der emotionalen Wirkung oder der Bereitschaft, bei erklingenden Liedern mitzusingen. Die aktive Beteiligung von Patienten (…) scheint auch aus ethischen Gründen notwendig, da es zur Lebenswürde kranker Menschen und dem respektvollen
Umgang mit ihnen gehört, dass diese über Art und Umfang der „Beschallung“ mitentscheiden dürfen.“

Gunter Kreutz führt dazu weiter aus: „Eine allgemeine Musikberieselung taugt nicht einmal als Notlösung, da sie leicht als Belästigung empfunden wird. In den Studien von Lancioni blieb ein grosser Teil positiver Wirkungen der Musik aus, wenn sie ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten der Patienten einfach abgespielt wurde.“

Wenn es möglich ist, dass eine Person in einer Singgruppe mitmachen kann, entstehen Gefühle sozialer Verbundenheit, und das Wohlbefinden steigt. Dazu führt der Autor Zitate einer Patientin und eines Patienten an:

„Tage danach fühle ich mich entspannter, dem Leben gewachsen, obwohl ich es nicht immer mit dem Singen in Verbindung bringe. Nerven sind geglätteter, Organe sind ruhiger, dadurch weniger Schmerzen (Patientin, 49 Jahre, psychiatrische Klinik.)“

„Die Musik, die Texte der Lieder und die damit verbundenen Emotionen bringen mich wieder mehr zu meinem Inneren. Der Alltag tritt zurück. Es ist eine positive Selbsterfahrung. Die Welt wird allgemein heller, weiter und bunter (Patientin, 62 Jahre, onkologische Reha-Klinik).“

Singgruppen

Für das Leiten einer Singgruppe braucht es kompetente Menschen. Neben dem gesangspädagogischen Fachwissen über die Stimme sowie einem breiten Liedgut verfügen Leitende idealerweise über weitere Kompetenzen. Anzustreben ist eine gemeinsame Kultur der Wertschätzung, der Offenheit und Toleranz. Die Menschen sollen spüren, dass sie mit ihrer Freude am Singen willkommen sind und angeleitet werden von einer Person, die mit Begeisterung singt und die anderen anstecken kann. Singen heisst auch summen, knurren, trällern, rufen, pfeifen, lachen, schnalzen. Gunter Kreutz rät: „Ermuntern und ermutigen Sie andere Menschen zum Singen; reagieren Sie mit Toleranz, Wohlwollen und gesundem Humor auf falsche Töne; treten Sie in einen Wettbewerb, wer am schönsten falsch singt.“ Gemeinsam entdecken Singende das (vielleicht schlummernde) Potential in ihren Stimmen, staunen darüber, lachen und freuen sich. Mit dem Singen ist der wunderbare Zustand des selbstvergessenen Glücks möglich. Singen und Grübeln in einem ist fast unmöglich, und Singen kostet nichts. Es ist sofort und fast überall durchführbar, ist risikofrei, eine Wohltat — und macht einfach glücklich!

Zum Buch: Gunter Kreutz. „Warum Singen glücklich macht“. 3. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage, 2020. Psychosozial-Verlag

Zum Autor des Buchs: Gunter Kreutz, Prof. Dr., lehrt seit 2008 Systematische Musikwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Psychologische, körperliche und soziale Bedeutungen von Musizieren, Singen und Tanzen unter Laien stehen im Vordergrund seiner Forschungsinteressen. Er ist Autor und Herausgeber von Fachpublikationen und Sachbüchern.

Zur Autorin des Artikels: Daniela Schumacher ist selbstständige Berufsmusikerin (Gesang, Klavier, Chordirigentin) und Sprachlehrerin. Sie ist Vorstandsmitglied bei EVTA.

www.danielaschumacher.ch